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Ernst Reinhard Verlag
Presseabteilung
z. Hd. von Frau Heidrun Thiel
Postfach 38 02 80 80615 München
Sehr geehrte Frau Thiel!
Es sind bestimmt schon mehr als 10 Jahre, daß ich Ihre Verlagserzeugnisse für den Mitglieder-Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe (AFET) e.V. rezensiere. Hier ist nun der erste und wohl auch einzige Fall eingetreten, daß ich mich außerstande sehe, das obengenannte Buch den Lesern des Mitglieder-Rundbriefes zu empfehlen. Denn, die Mehrzahl der Mitglieder des AFET sind „Leute vom Fach", die erwarten dürfen, von der Empfehlung eines Buches, wenn sie es für sich oder für ihre Einrichtung beschaffen, nicht enttäuscht zu werden. Übrigens, das Buch hatte ich aus Ihrem Angebot ausgesucht, weil der Titel die Klärung zweier Begriffe aus der Jugendhilfe zu versprechen schien. Dafür, daß das ein Mißgriff war, liegt die Schuld bei mir und nicht anderswo. Nun will ich Ihnen aber meine Begründung nicht vorenthalten, quasi als eine zum verlagsinternen Gebrauch bestimmte Rezension.
Die beiden Begriffe „Kindeswohl" und „Kindeswille" sowie die unvermutete Zugabe „Parental Alienation Sydrome" bieten dem in der Jugend- und Gerichtshilfe Tätigen
keinen Erkenntnisgewinn und dem lediglich an den Themen Interessierten manche
Desinformation. Denn, ein Geist der Verneinung durchweht dieses Buch, das viel
Wissen und wenig Erkenntnis verbreitet, wodurch das viele Wissen lediglich
Dekoration ist, zumal ihm, wie noch zu zeigen ist, auch noch der Kollektivgedanke
zugrunde liegt. Dabei wird offensichtlich verkannt, daß es sich da, wo Kinder im
Rechtsverfahren leibhaftig auftreten, immer um Einzelschicksale handelt, die sich
jeder Verallgemeinerung entziehen, wodurch ja die Schwierigkeiten bei der
Erklärung, was die Begriffe „Kindeswohl" und „Kindeswille" konkret im einzelnen
bedeuten, entstanden sind. Bei der für eine Rezension gebotenen kritischen
Betrachtung übergehe ich die Kapitel 1 und 2, weil ihre kritische Erörterung uferlos
werden würde, und beschränke mich auf die Kapitel 3, 4 und 5.Zu Kapitel 3, Das Wohl des Kindes (Seite 45 ff.): „Der Begriff .Kindeswohl' ist eine definitorische Katastrophe" (Seite 46). „Kindeswohl ist ein Rechtsbegriff" und „Kindeswohl ist kein empirischer Begriff (beide Zitate auf Seite 47). Und, auf Seite 48 wird die Forderung erwähnt, den Begriff „Kindeswohl" als schwer fassbaren Begriff abzuschaffen. Im gleichen Atemzuge werden „Erziehung" und „Einstellung" genannt. Hinter der Eliminierung der Erziehung aus der Pädagogik lugt Karl Marx mit seinem Klassenkampf hervor: Die Klasse der Erzieher als Unterdrücker und die Klasse der zu erziehenden Kinder als die Unterdrückten. Für die Eliminierung des Begriffes „Einstellung" (engl. attitude) aus der Psychologie fehlen dem Rezensenten allerdings die Anknüpfungspunkte. Nun werden sich weder die angelsächsische Welt herbeilassen, 'education' noch die französischsprachige Welt, «education» zu eliminieren. Allenfalls würde das weltweite Vorurteil von der bundesdeutschen Kleinkariertheit und Provinzialität bestätigt. Weiter im Text: Weil die flächendeckende Verwendung des Begriffes „Kindeswohl" seine Liquidierung ausschließe, sei er produktiv und differenziert zu nutzen, indem mit seiner Hilfe sozialpolitische Grundsatzentscheidungen für das Kindeswohl gesichert würden, was heißt, einen kollektivistischen Rechtsanspruch zu begründen, (Seite 48 f.) um es auf der Ebene einzelner Regelungsbereiche bzw. Rechtszweige jeweils spezifisch umzusetzen. Der originale Text ist viel umfangreicher und komplizierter. Der Rezensent kann dazu nur zwei Anmerkungen machen. Erstens, schon in der Schrift des Kreises um Joseph Goldstein „Jenseits des Kindeswohls" von 1979 (im Literaturverzeichis des Buches mit aufgeführt) findet sich ein eigener Beitrag von Spiros Simitis, dem Frankfurter Rechtsprofessor, derzeit Vorsitzender der Ethikkommission, mit dem Titel „Das Kindeswohl als universale Kategorie". Das heißt zweitens, in der Kategorialanalyse ist dieser Begriff als genus proximum (Oberbegriff) auf einer hohen Abstraktionsebene, nicht weit unter solchen Begriffen wie Leben und Schicksal, angesiedelt. Solch ein genus proximum ist zunächst gegenüber dem konkret wahrzunehmenden Lebendigen ein unvollständig definierter Begriff oder eine uns vorschwebende Idee, die erst mittels individueller Merkmale, den differentia specifica, Leben und Schicksal des einzelnen, der Hilfe bedürftigen Kindes erkennen läßt.. Diese Zusammenhänge werden zwar vom Verfasser gestreift, nicht aber zentral getroffen. Da das Recht eine ausgleichende wiederherstellende Aufgabe hat, kennzeichnet der Kindeswohlbegriff im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) und Kindschaftsrechtsreformgesetz (KindRG) einen individuellen akuten Mangel, der abzuwenden ist. Er hat also eine individuelle, auf die konkrete Situation bezogene Qualität. Man kann auch sagen, der Kindeswohlbegriff besetzt die Schnittstelle des Rechtswesens mit den verschiedenen Humanbereichen, wie Pädagogische Anthropologie, Psychologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Sozialwesen. Wegen seines individualisierenden Charakters eignet sich das Kindeswohl nicht für wie auch immer geartete politische Erwartungen oder gar Forderungen. Was dabei herauskommt, wenn es doch versucht wird, ist in dem Buch nachzulesen.
Zu Kapitel 4 Der Wille des Kindes (Seite 60 ff.)
Hier weht der Geist der Verneinung heftiger. Zunächst wird über die Fragwürdigkeit des Begriffes „Wille" räsoniert, um sich dann dem Thema „Wille" allgemein zuzuwenden (Seite 62 ff.). Dabei können wir heute nur deswegen so klug daherreden, weil frühere Generationen die denkbaren und möglichen Erkenntniswege ausgemessen haben und uns damit Irrwege ersparten. Im Übrigen geht es im Familienrechtsverfahren nicht um den Willen des Kindes als zeitgebundenen Entwicklungs- und Entfaltungsprozeß. Vielmehr geht es um die sich einem jeden gerichtlich bestellten Sachverständigen ergebende Frage, ob und unter welchen Bedingungen einem Kinde getrenntlebender oder geschiedener Eltern zugemutet werden kann, zwischen seinen Eltern eine parteinehmende Willensentscheidung zu treffen, die möglicherweise zum dauernden Abbruch der familiären Beziehung zu einem der beiden Elternteile führt. In diesem Buch, aber auch anderswo, wird vorausgesetzt - zugespitzt formuliert -, die Kinder seien scharf darauf, zwischen ihren zerstrittenen Eltern den Schiedsrichter zu spielen, um dem einem all ihre kindliche Liebe zuzuwenden und den anderen zu verachten. Die Wirklichkeit ist indessen eine ganz andere. Wenn sich Eltern trennen oder gar scheiden lassen, dann steckt tief drinnen in dem zwischen ihnen stehenden Kinde der Wunsch, beide Eltern möchten doch wieder zusammen und für immer, so wie früher, da sein. Davon ist aber in den Rechtsverfahren selten die Rede. Zur Erklärung ist auf zwei Zäsuren hinzuweisen. Die erste erfolgte mit der Eherechtsreform von 1977, die zweite mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998. Trotz der Bedeutung für das Thema steht in dem Buche davon nichts.
Bis zur Eherechtsreform von 1977 war vom Kindeswillen keine Rede. Das bis dahin geltende Schuldprinzip regelte die Frage nach dem Verbleib des Kindes auf die einfache Weise: Der schuldig geschiedene Elternteil schied als Inhaber der „elterlichen Gewalt" (so hieß das damals noch) von vornherein aus. Mit der Eherechtsreform wurde anstelle des Schuldprinzips das Zerrüttungsprinzip eingeführt. Weil keine Schuldfeststellung mehr stattfindet, ist der Verbleib des Kindes im Verfahren zu klären, wobei die „elterliche Sorge" (so heißt das jetzt) einem von beiden Elternteilen zu übertragen ist (§ 1671 BGB). Die Frage, welcher Elternteil das sein soll, beschäftigt seither, man möchte sagen, Legionen gerichtlich bestellter Sachverständiger. Weil sich beide Eltern meist nicht soweit voneinander unterscheiden, daß einer empfohlen und vor dem anderen gewarnt werden könnte, kam der § 50 b FGG (Freiwillige Gerichtsbarkeit) gelegen, denn darin ist der Wille des Kindes als berücksichtigenswert genannt. Seither wurden Kinder von berufenen und weniger berufenen Experten oft insistierend aufgefordert, doch endlich zu sagen, zu welchem Elternteil sie denn nun gehen wollen. Weil Kinder eine Antwort geben, die aber nicht unbedingt ihrem Willen entsprechen muß, erwies sich die Einführung des Kindeswillens in die gerichtliche Entscheidung im Großen und Ganzen als Fiktion. Dennoch, der Kindeswille paßte so gut ins System. Und, die meisten Sachverständigen arrangierten sich damit, auch wenn sie die Einsicht hatten, die erst mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz von 1998 zur Geltung kam.
Im Kindschaftsrechtsreformgesetz hat der Gesetzgeber einen bedeutsamen Schritt getan, indem er nämlich das Kind, das bisher bloßes Rechtsobjekt, Verfügungsmasse wie Hausrat und Zugewinn, war, zum Rechtssubjekt machte, indem er ihm ein eigenes Recht verlieh. Nämlich im neuen § 1684 BGB, wonach das Kind ein Recht zum Umgang mit jedem Elternteil hat. Gleichzeitig wird den Eltern die gemeinsame elterliche Sorge, so wie sie sie bislang ausübten, belassen. Das muß nicht zur Bedeutungslosigkeit des Kindeswillens führen, läßt aber Raum, den Willen des Kindes erst dann in einem Rechtsverfahren als beweiserhebliche Tatsache zu bewerten, wenn es reif genug ist, die aus seiner Willenserklärung hervorgehende Entscheidung in ihren Konsequenzen zu überblicken und für die Konsequenzen auch einzustehen.
Zu Kapitel 5 Parental Alienation Syndrome (PAS) (Seite 102 ff.)
Schon mit dem Jargon des ersten Satzes „Es ist auf jeden Fall ein Senkrechtstarter unter den einschlägigen Begrifflichkeiten" (Seite 102) erweist der Verfasser sein Talent fürs Feuilleton, wenn auch nicht gerade für die F.A.Z. Im Übrigen leidet dieses Kapitel unter dem Mangel an Originalquellen. Der Verfasser benutzt hauptsächlich Sekundärliteratur, in denen der Urheber des Begriffes „The Parental Alienation Syndrome", der amerikanische Kinderpsychiater Richard A. Gardner, weitgehend missverstanden wird. So beispielsweise beim Mißverständnis der sogen. acht Kardinalsymptome (Seite 103 f.) als diagnostisches Verhaltensinventar. Was es tatsächlich damit auf sich hat, finden Sie in der als Photokopie (der Verlag stellt keine Sonderdrucke mehr her) beigefügten Abhandlung „Szenarien der Entfremdung im elterlichen Trennungsprozeß" in ZfJ 2/2002, in dem auch die aktuellen Schriften verarbeitet sind, mit denen sich Gardner um Verständnis bemüht und versucht, Missverständnisse auszuräumen. Durch einen betroffenen Vater, der zu Gardner in die Staaten gereist war, kam ich schon Ende der 80er Jahre in den Besitz der Bücher und sonstigen Schriften von Gardner.
Ganz persönliche Schlußbemerkung : Ich halte mich nicht für befugt, mich über den Verfasser zu erheben. Weil ich aber mein erstes Sachverständigengutachten im Jahre 1954 vor dem Amtsgericht Bielefeld erstattete, nach 1977, dem Jahr der Eherechtsreform, Seminare für Familienrichter und -richterinnen abhielt, sie mit der psychologischen Methode vertraut zu machen, im Laufe der Jahrzehnte unzählige Gutachten erstattete und dadurch Zeitzeuge der Entwicklung des einschlägigen Rechtswesens von da an bis heute bin, erlaube ich mir eine solche kritische Betrachtungsweise, die allerdings nicht für eine Veröffentlichung im AFET Mitglieder-Rundbrief taugt. In der Literaturkritik nennt man, was ich hier schrieb, einen Verriß. Manche empfinden das als unkollegial. Indessen, nicht solidarischer, nein, solider sollen wir sein.
Schließlich finden Sie in der Anlage die Texte der in der Märzausgabe des Mitglieder-Rundbriefes des AFET erscheinenden Rezensionen. Ebenso reiche ich Ihnen das Buch von Harry Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, zu Ihrer Verfügung zurück.
Mit freundlichem Gruß
Prof. Dr. WoIfg. Klenner |
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